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Stories
Langsame Umdrehungen – Carsten Höller im Gespräch

Langsame Umdrehungen – Carsten Höller im Gespräch

Von
Mathis Neuhaus

Der für seine radikal verspielten und zugleich präzise gedachten Installationen bekannte Künstler Carsten Höller erforscht das Spannungsfeld von Wahrnehmung, Kontrolle und Vergnügen. Für das Kulm Hotel St. Moritz realisiert er ein verspiegeltes rosafarbenes Karussell, das auf dem Eisfeld vor dem Hotel installiert wird. Im Gespräch mit Mathis Neuhaus spricht Höller über den Reiz der Langsamkeit, bewusstseinsverändernde Kunst und den Luxus des Nichtwissens.

Wie kam es zu deinen Karussell-Arbeiten, von denen eine in St. Moritz zu sehen sein wird im Winter?
Das kann man auf zweierlei Arten beantworten. Zum einen interessiert mich die Idee des Karussells als Amüsiergerät. Heute nutzt man es, um sich daraufzusetzen und den Geist auszuschalten, während man herumwirbelt. Aber wenn man das Tempo herausnimmt, wenn man es ganz ruhig werden lässt, wird es etwas anderes: eine meditative Angelegenheit, eine gleichmässige Bewegung, bei der das Gefühl der Rasanz verschwindet. Diese Langsamkeit ist oft eine Enttäuschung, besonders für Kinder. Sie erwarten Action, aber es tut sich scheinbar wenig. Und gerade das, dieses vermeintlich Unaufgeregte, interessiert mich.

Das Karussell war ursprünglich kein Vergnügungs-, sondern ein Übungsgerät für den Krieg. Im Mittelalter trainierten Ritter mit drehbaren Figuren, auf die sie mit der Lanze zuritten. Daher drehen sich Karusselle in Europa meist gegen den Uhrzeigersinn: Der Ritter war für gewöhnlich Rechtshänder und ritt von links an. Als das Karussell nach Amerika kam, änderte sich die Richtung. Die Amerikaner liessen es mit dem Uhrzeigersinn laufen. Mich interessiert diese Spiegelung, dieses fast chemische Prinzip, wie bei Isotopen: gleiche Form, leicht gespiegelt, andere Reaktion. Vielleicht prägt das auch unsere Wahrnehmung von Bewegung und Vergnügen.

Mich beschäftigt ausserdem die Frage nach dem Vergnügen selbst. Die Philosophie meidet das Thema, weil es etwas Triviales hat. Es gibt Huizingas Homo Ludens, aber sonst kaum Auseinandersetzungen damit. Wir suchen ständig Vergnügen, meist unnötig. Vielleicht ist das eine Art Krankheit, die wir kultivieren, oder eine Sehnsucht, die uns selbst erstaunt.

Das Kulm Hotel beschreibt sich selbst als «Alpine Playground». Da passt dein Karussell gedanklich gut hinein?
Für das verspiegelte rosa Karussell sind St. Moritz und das Kulm perfekt. Es trägt beides in sich: Überhöhung und Ironie. Man ist dort unter Menschen, die sich gern zeigen, inmitten von Ferraris, Eleganz, Inszenierung. Mein Karussell spiegelt das buchstäblich und metaphorisch. Man zeigt sich darauf, man wird gesehen, und die Langsamkeit bricht den üblichen Reflex des Sich-Amüsierens. Man sitzt da und wird Teil dieser Inszenierung, aber anders. Mich interessiert, dass es kein Museumsobjekt ist, sondern im halböffentlichen Raum steht, zwischen Hotel, Eisfeld und vorbeiziehenden Blicken. Da geschieht eine andere Art von Begegnung.

Deine Arbeiten wirken zugänglich, fast demokratisch.
Zugang ist wichtig. Ich mache Sachen, denen man sich auf verschiedene Weisen nähern kann. Man muss nichts wissen, um sie wertzuschätzen. Ein Kind sieht eine Rutschbahn und rutscht. Kunstkennerinnen und Kunstkenner sehen eine Skulptur, die von Menschen aktiviert wird. Ich mag, wenn beides gleichzeitig gilt, wenn nichts ausgeschlossen ist. Diese mehrschichtigen Zugänge interessieren mich. Vielleicht ist das wirklich demokratisch.

Die Menschen geben deiner Arbeit Bedeutung.
Mich hat Pieter Bruegel der Ältere sehr beeinflusst, diese Szenen voller Menschen, die Verschiedenes tun. Ich stelle mir auch St. Moritz so vor: Leute trinken Kaffee, stehen bei ihren Autos, laufen Schlittschuh. Und dann steht dort das Karussell, ein ruhiger Mittelpunkt. Alles in Bewegung und doch wie eingefangen. Zusammen ergibt das eine lebendige Landschaft, eine Szene voller gleichzeitiger Handlungen.

Wie denkst du über deine Umgebung nach? Und was ist dein Verhältnis zu den Bergen?
Ich lebe in Stockholm, baue in Italien etwas auf und habe ein Haus in Ghana. Ich bin wie ein Zugvogel. Im Winter die Sonne, im Sommer der Norden. Ich kenne das Engadin ein wenig, war früher oft im Wallis Ski fahren und eine meiner Arbeiten ist im Hotel Castell in Zuoz zu sehen. Ich sehe alles als Teil eines grossen Naturzusammenhangs. Wir, die Tiere und die Landschaft. Für mich gibt es keinen Gegensatz zwischen Natur und Kultur.

 

 

Auf dem Karussell ist es egal, wo man sitzt. Man dreht sich langsam im Kreis, und dieser Zustand, dass alle Plätze gleichwertig sind, ist für mich Luxus.

Neben deiner Kunst betreibst du auch ein Restaurant in Stockholm und bist mit dem «Dream Hotel» quasi Hotelier geworden. Kannst du davon erzählen?
Das entstand zufällig. Ein Traumforscher hat mir geschrieben, weil er meine Zahnpasta-Arbeit kannte, mit der man die eigene Traumerinnerung und -richtung beeinflussen sollte. Wir haben dann zusammen ein Traumbett gebaut, Hotelzimmer Nummer eins, Dreaming of Flying with Flying Fly Agarics [Träumen vom Fliegen mit Fliegenpilzen]. Das hat erstaunlich gut funktioniert, es gab sogar eine wissenschaftliche Veröffentlichung dazu. Jetzt arbeiten wir an Zimmern für kollektives Träumen, bei denen mehrere Menschen dasselbe träumen sollen. Ob das wirklich geht, wissen wir natürlich nicht, aber genau das ist spannend, diese Unsicherheit, ob sich Bewusstsein teilen lässt.

Im Engadin gibt es ja viele Pilze. Ich habe bei meinem letzten Besuch am See meinen ersten Fliegenpilz gesehen.
Ach wirklich? In Stockholm wachsen sie manchmal mitten in der Stadt, unter Birken oder Tannen. Mich interessiert der Fliegenpilz als Form und Symbol. Das Karussell hat auch etwas Pilzhaftes, diese Kappe, die Drehung.

Ist das Lenken von Träumen, das du gerade beschrieben hast, der ultimative Luxus? Und was bedeutet dieser Begriff für dich, gerade im Kontext von St. Moritz?
Träume sind das Letzte, was uns ganz privat bleibt. Wenn man anfängt, sie zu lenken, ist das faszinierend, aber auch gefährlich. Es ist die letzte Bastion der Freiheit oder der Manipulation. Was den Luxus betrifft, interessiert mich etwas anderes als der übliche materielle Begriff. In St. Moritz denkt man beim Wort Luxus an Hotels, Autos, an Dinge, die glänzen. Für mich ist «Luxus» ein Zustand jenseits des Besitzes. Ich nenne das spirituellen Luxus, den Luxus, nicht entscheiden zu müssen. Vielleicht ist das der einzige wirkliche Luxus, der uns bleibt. Wir leben in einer Welt, in der man ständig wählen muss, zwischen A und B, besser und schlechter, teurer und billiger. Auf dem Karussell ist es egal, wo man sitzt. Man dreht sich langsam im Kreis, und dieser Zustand, dass alle Plätze gleichwertig sind, ist für mich Luxus. Viele meiner Arbeiten sind «Confusion Machines». Sie erzeugen eine produktive Verwirrung. Es geht nicht um Chaos, sondern um das Auflösen von Hierarchien. Man weiss nicht mehr genau, was richtig und was falsch ist, und das empfinde ich als Befreiung. Unsere Kultur basiert auf Kontrolle und Vergleich. Wir wollen alles messen, vorhersagen, bewerten. Es befreit, das nicht zu tun, sich dem Nichtwissen auszusetzen, ohne Angst davor zu haben. Das ist ein geistiger Luxus, ein Luxus der Offenheit, der nichts ausschliesst, sondern zulässt. Ich glaube, darin liegt auch eine Form von Trost, etwas, das in unserer Welt selten geworden ist. In einer Umgebung wie St. Moritz, wo alles auf Perfektion, Effizienz und Sichtbarkeit ausgerichtet ist, schafft das Karussell einen Gegenpol. Es dreht sich gemächlich, es ist rosafarben, verspiegelt, es lässt sich nicht beschleunigen. Und genau dadurch stellt es die Frage: Woran messen wir Wert? Vielleicht ist der eigentliche Luxus, nichts messen zu müssen.

 

 

Kunst ist genau darum interessant: Sie kann fragen, ohne zu wissen, und das ist ihr Reiz.

Du hast vorhin die kunsthistorische Referenz angesprochen. Welche Rolle spielt das Karussell im Engadiner Ökosystem?
Einerseits gibt es die Zurschaustellung. Man sitzt drauf, wird gesehen, spiegelt sich. Das Objekt reflektiert sich selbst und die Menschen. Es hat etwas Selbstbezügliches, aber der Rausch fehlt. Andererseits geht es um Zeit. Wir wollen das Karussell wie eine Uhr einstellen. Meine erste Karussell-Arbeit brauchte für eine Umdrehung 24 Stunden. Die Bewegung war unsichtbar, nur am Schatten erkennbar. In St. Moritz werden wir die Drehung feinjustieren, zwischen zehn Minuten und einer Stunde pro Umdrehung, das stellen wir vor Ort ein. Ich mag diese Präzision, fast wie bei einem Uhrwerk, das passt hierher, in die Schweiz.

Warum kommst du immer wieder auf das Motiv des Karussells zurück?
Weil es so viel in sich trägt: Kinderspiel, Zeitmaschine, Skulptur. Und weil es die Frage nach Vergnügen stellt. Es ist ein dysfunktionales Karussell, ein Ort des Nichtverstehens. Zeit, Bewusstsein, Leben – alles Bereiche, die wir nicht wirklich begreifen. Darum ist Kunst interessant. Sie kann fragen, ohne zu wissen, und genau das ist ihr Reiz.

Und welche Rolle spielt der Klang?
Arman Naféei konzipiert den Sound für den ganzen Platz. Mich interessiert, dass das Karussell selbst zum Klangkörper wird. Wir bauen hinter den Spiegeln Lautsprecher ein. Es tönt, schwingt, vibriert.

Das Karussell steht auf der Eisfläche, mit Blick in alle Richtungen.
Genau. Und es besteht aus zwölf identischen Elementen, ein Zwölfeck. Die Unterschiedlichkeit entsteht erst durch die Menschen, die darauf sitzen, durch Kleidung, Haltung, Gesten. Das Werk ist neutral, die Variation kommt durch das Publikum. Du siehst viel, aber du wirst auch viel gesehen. Das gehört dazu, Aussicht und Ausgestelltsein, beides in einem. Der Spiegel vervielfacht das, man sieht sich selbst, sieht andere, wird Teil eines Spiels von Blicken.

Über den Künstler

Carsten Höller verbindet wissenschaftliche Neugier mit Kunst und erforscht Wahrnehmung, menschliches Verhalten und veränderte Bewusstseinszustände durch spielerisch humorvolle, zugleich irritierende Erfahrungen, die unsere Sicht auf die Welt hinterfragen.

Geboren 1961 in Brüssel als Sohn deutscher Eltern, studierte er Agrarwissenschaften und arbeitete zunächst als Entomologe, bevor er sich 1993 ganz der Kunst widmete.

(Zu seinen interaktiven Arbeiten zählen frühe Projekte wie Flugmaschine (1996) und Giant Psycho Tank (1999), vor allem aber seine ikonischen Rutschbahnen, die erstmals an der Berlin Biennale 1998 gezeigt und später unter anderem in der Tate Modern realisiert wurden. Diese Werke erzeugen durch einen temporären Kontrollverlust einen Zustand «zwischen Freude und Wahnsinn».)