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Stories
Ein Stück Peru in den Alpen

Ein Stück Peru in den Alpen

Von
Kerry Smith

Nach zehn Jahren am Herd des Kulm Hotel St. Moritz ist Claudia Canessa mit
sensationellen 16 Punkten vom Gourmetführer GaultMillau ausgezeichnet
worden – der Bibel der innovativen Küche. Wir haben die charismatische
Köchin in ihrer Küche besucht, um über Pisco, Passion und Peru zu sprechen.

Vor vielen Jahren – Jahrzehnte, bevor die peruanische Spitzenköchin Claudia Canessa geboren wurde – gründeten zwei französische Journalisten und passionierte Gourmets, Christian Millau und Henri Gault, einen Führer als Antwort auf den Guide Michelin. Den Führer von Michelin bezeichneten sie verächtlich als
«Telefonbuch» und erklärten dem «aufgeblähtem Bonvivant mit Serviette am Kinn und einer tropfenden Mischung aus Pastete, Kalbsfond und Béchamelsauce an den Lippen» den Krieg. Stattdessen suchten sie junge Talente, neue Trends und innovative Gerichte. Sie prägten damit eine leichtere Kochweise, die bald als «Nouvelle Cuisine» bekannt wurde – das Fundament der modernen Gastronomie und der Beginn der Ära der Starköche.

Heute, so könnte man meinen, lächeln Millau und Gault wohlwollend vom grossen Restaurant im Himmel auf Claudia Canessa, die eben ihren 16. Punkt von GaultMillau erhalten hat. (Und auch wenn die Bewertung bis 20 Punkte reicht, galt für die Gründer: Perfektion gibt es nicht – also auch keine 20 Punkte.)

 

 

 

«Die Balance in ihren Ceviches ist bewundernswert.»

Canessa gehört zu den drei internationalen Stars in der Küche des Kulm Hotel St. Moritz – neben Mauro Colagreco und dem britischen Ausnahmetalent Tom Booton. «Die heftig tätowierte Peruanerin Claudia Canessa kocht schon lange im «Kulm». «So gut wie dieses Jahr war sie noch nie.», schwärmt Urs Heller, Chef von GaultMillau Schweiz. «Die Balance in ihren Ceviches ist bewundernswert. Grossartig ist der Tuna Chicano mit Zitronenzeste und das Lachs-Tiradito mit Yuzu-Ponzu.»

Ein grosses Lob – vor allem für eine Köchin, die via WhatsApp von Kulm-General Manager Heinz Hunkeler engagiert wurde. Peruanische Küche war damals in den Metropolen der Welt im Trend, in den Alpen – dem Reich von Fondue und Rösti – jedoch ein Wagnis. «Das Kulm ist ein Hort der Tradition, aber genauso ein Ort der Kreativität und Innovation», sagt Hunkeler. «Wir suchen immer nach spannenden Pionieren und Pionierinnen, die unseren Gästen magische Erlebnisse bieten.» Canessa erhielt die Chance, im legendären Sunny Bar zu kochen – dem Stammlokal der Cresta-Runner – und der Rest ist Geschichte.

 

 

 

«Wir bauen immer einen Twist ein, damit es Spass macht.»

Nach sieben Jahren im Sunny Bar eröffnete Canessa Ende 2023 ihr eigenes Restaurant Amaru. Der Name stammt von einer mythischen Inkaserpente, die Einrichtung – ein folkloristisch-schweizerisches Schmuckkästchen – gestaltete der britische Künstler Luke Edward Hall. Der Auftakt für jedes Menü ist
selbstverständlich ein Pisco Sour.

Es gehört zu faszinierendsten Beschäftigungen, einer Köchin von Weltklasse beim Arbeiten zuzusehen. Ohne sichtbare Mühe bringt Claudia Canessa ein Stück Peru mitten in die Schweizer Alpen – mit einer Küche, die überrascht, verführt und begeistert. «Ich bin stolz auf meine peruanischen Wurzeln, und das treibt mich an, die beste peruanische Küche zu bieten», erzählt Canessa. «Ich habe mein Handwerk in den
Küchen von Lima gelernt. Viele unserer Gerichte sind klassische Streetfood- Spezialitäten aus meiner Heimat – wie Ceviche. Der Fisch wird mit Limette, Chili und Zwiebeln mariniert – das ist die Basis. Ceviche gab es schon bei den Inkas vor 600 Jahren.» Puristin sei sie aber nicht: «In Mexiko kommt Tomate und Avocado dazu. Unser Küchenchef Iker ist Mexikaner – eine wahre Kochmaschine! Wir mischen oft unsere lateinamerikanischen Küchen, das passt wunderbar. Immer mit einem Twist, damit es Spass macht.»

Für ihr Ceviche importiert Canessa täglich fangfrischen Wolfsbarsch vom Mailänder Fischmarkt. In ihrer Küche gilt: Volle Power für Geschmack und Kreativität. In Zeiten kulinarischer Vorschriften wirkt ihr hedonistischer Stil geradezu befreiend. «Mit acht Jahren stand ich mit meiner Grossmutter in der Küche. Für mich ist die Küche ein Ort des Friedens. Dort kann ich meine Leidenschaft mit allen teilen. Meine Küchen sind Peace and Love.»

Ungewöhnlich ist auch ihr Zugang: «Oft habe ich meine Menüs für die kommende Saison schon im Kopf, bevor ich überhaupt teste. Ich weiss einfach, welche Aromen zueinanderpassen. Danach feile ich an Details – die Basis stimmt.»

Zurück im Amaru: Die Gäste vertrauen blind auf Canessas feines Gespür und lassen sich verführen von Hühner-Empanadas mit Pepián und Chalaca-Sauce, Botija-Oliven und Shiso-Mayo, oder von flambiertem Lachs mit roten Crevetten, TNT-Sauce, Gari und Guacamole – Gerichte, die man noch Wochen später im Kopf (und am Gaumen) hat. Innovativ, verführerisch und unverwechselbar. Millau und Gault wären stolz.

Über die Autorin

Kerry Smith war Editor-at-Large beim British Airways Magazin High Life. Zuvor schrieb sie für Magazine wie Marie Claire, Glamour, The London Evening Standard und The Independent. Heute arbeitet sie als freie Journalistin – wenn sie nicht gerade in einem peruanischen Restaurant in den Schweizer Bergen sitzt.