Ein kühnes Leben
Von
Stephen Bartley
Manche Figuren verdienen, dass ihnen ein Denkmal gebaut und dass ihre Geschichte erzählt wird. Dies gilt mit Sicherheit für Billy Fiske, einen der «besten Cresta-Rider aller Zeiten» wie Stephen Bartley, der Archivar des St. Moritzer Tobogganing Club, feststellt. Der Amerikaner wurde nicht nur zu einem britischen Kriegshelden, sondern brach auch zahlreiche Wintersport-Rekorde in St. Moritz und darüber hinaus. Sein Charakter ist stellvertretend für den Ethos des Cresta Runs, der Fiskes wagemutiges Erbe bis heute lebendig hält.
Unter den Sportlerinnen und Sportlern, die 1928 zu den Olympischen Winterspielen nach St. Moritz kamen, stach einer besonders hervor: der 16-jährige Amerikaner William Meade Lindsley Fiske III. Für die meisten war er Billy, für Freunde und Familie einfach «Bill». Als Sohn eines wohlhabenden Bankiers aus Chicago wuchs er privilegiert auf und entdeckte früh seine Leidenschaft für Geschwindigkeit. Mit zehn sass er bereits am Steuer eines Autos, ein Vorgeschmack auf die vielen riskanten Abenteuer, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. 1924 zog er mit seiner Schwester Beulah «Pegy» und den Eltern nach Europa, wo sein Vater die Europageschäfte von Dillon, Read & Co. leitete. Die Familie liess sich in Paris in einem Haus an der Avenue Bugeaud nieder und kaufte ein Schloss bei Biarritz. Dort soll Billy mit 14 am Strand einen Mann vor dem Ertrinken gerettet haben, ein früher Beweis für seinen Mut.
Während die Eltern geschäftlich durch Europa reisten und im Auftrag der Bank Staatskredite mit Regierungen verhandelten, lebten die Kinder in Internaten. In den Ferien blieben sie mit Bediensteten zurück und nutzten die Freiheit für eigene, nicht immer erlaubte Abenteuer. Legendär wurde die Episode, als Billy mit 15 den roten Bugatti seines Vaters «auslieh» und mit Pegy als Co-Pilotin an einem Bergrennen teilnahm. Die Szene erinnert fast an den Film Ferris Bueller’s Day Off, in dem Matthew Broderick den Sportwagen seines Vaters entführt. Billy gewann das Rennen tatsächlich, mahnte seine Schwester aber eindringlich, niemandem davon zu erzählen. Pegy schwieg nach aussen, hielt die Episode jedoch heimlich in ihrem Tagebuch fest. Solche Eskapaden machten den jungen Billy Fiske beliebt, seine unbe-kümmerte Art zog die Menschen an wie ein Magnet.
Seinen ersten Winter verbrachte Billy 1926/27 in St. Moritz. Der Vater hatte einen Bob gekauft und ihn «Satan» getauft. Zwischen Skifahren, Eislaufen und Ausflügen zum Cresta Run zeigte sich Billys besonderes Talent. Vermutlich wagten Pegy und Billy in jenem Winter auch selbst einige Fahrten von der Cresta Junction, da Frauen bis 1929 auf der Strecke zugelassen waren. Billy erwies sich als aussergewöhnlicher Steuermann, gewann den prestigeträchtigen Bobsleigh Derby Cup und den Olavegoya Cup für die schnellsten Zeiten. Damals mussten noch fünf Personen in einem Bob sitzen, darunter eine Frau. Billys Team bevorzugte den riskanten ventre à terre-Stil, bei dem alle bäuchlings übereinanderlagen. Nachvollziehbarerweise goutierten Frauen diese Regel wenig, und sie wurde bald verboten. Zeitzeugen berichteten später, dass Billy in diesen frühen Jahren mit einer Mischung aus technischer Präzision und jugendlicher Furchtlosigkeit fuhr. Schon als Teenager hatte er das Gespür, die Bahn wie ein erfahrener Pilot zu lesen.
Schon als Teenager hatte er das Gespür, die Bahn wie ein erfahrener Pilot zu lesen.
Vielleicht waren es diese Erfolge, die das Interesse des US-Bobsleigh-Komitees weckten. Schon ein Jahr später gehörte Billy zum US-Team für die Winterspiele 1928 in St. Moritz. Seine Stärke war das Gespür für die perfekte Linie durch die Kurven. Sein einziger Rivale war J. R. «Jack» Heaton, der jüngste einer sportlichen Geschwisterreihe. Beide Familien kannten St. Moritz gut, die Heatons kamen seit Jahren über Weihnachten ins Palace Hotel. St. Moritz war in jenen Jahren bereits mehr als nur ein Wintersportort. Es war ein mondäner Treffpunkt der europäischen Gesellschaft, und der junge Billy war ein Teil davon: Adelige, Industrielle, Schauspieler und Künstler gaben sich die Klinke in die Hand.
Im olympischen Fünf-Mann-Bob wurde Jack als Steuermann von USA I, Billy für USA II nominiert, was sich als inspirierte Entscheidung erwies. Beim letzten Trainingslauf jedoch verletzte sich Jack, und sein Bruder Jennison sprang ein. Weil es zu warm war, wurde das Rennen auf zwei Läufe verkürzt. Nach dem ersten lag Billy auf Platz zwei. Am nächsten Morgen nutzte er den frühen Start, fuhr Bestzeit und gewann mit seinem Team Gold. Mit 16 war er der jüngste Olympiasieger der Winterspiele. Dieser Rekord hielt bis 1992.
Die freundschaftliche Rivalität mit Jack reichte von der Bob- bis zur Cresta-Bahn. 1931/32 kam es zu einem öffentlichen Duell auf der Bobbahn mit Cresta-Schlitten. Das Preisgeld betrug 2000 Franken, als Schiedsrichter amtierte Charlie Chaplin, der in St. Moritz sein letztes grosses Stummfilmwerk City Lights vorstellte, das im örtlichen Kino Europapremiere feierte. Jack, der erfahrenere Skeleton-Fahrer, ging als verdienter Sieger hervor, ein Ergebnis, das Billy auf dem Cresta auszugleichen hoffte. Zunächst aber stand die Titelverteidigung bei den Olympischen Spielen 1932 in Lake Placid an, wo er als Fahnenträger die «Stars and Stripes» ins Stadion führte. Gemeinsam mit seinen drei Mannschaftskameraden gewann er erneut die Goldmedaille. Danach folgte Ernüchterung über die Leitung von Team USA. Zusammen mit der politischen Lage in Deutschland bewog ihn dies, auf eine Teilnahme an den Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen zu verzichten. Abseits der Wettbewerbe blieb es rasant. Mit den Heatons verband die Fiskes eine unbeschwerte Zeit in St. Moritz, voller gemeinsamer Abenteuer. Pegy heiratete Jennison Heaton, selbst Rennfahrer wie Billy. Da der Vater Autorennen verboten hatte, startete Billy unter Pseudonym. Mit einem 4,5-Liter-Bentley soll er am 24-Stunden-Ren-nen von Le Mans teilgenommen haben, stets darauf bedacht, seinen Namen nicht öffentlich auftauchen zu lassen. Bob und Cresta hingegen waren für Billy weiterhin erlaubt, sie galten in den Augen des Vaters als weniger gefährlich.
Zwischen 1935 und 1938 gewann Billy zweimal den Curzon Cup und zweimal den Grand National, stets mit Rekorden. Viele halten ihn bis heute für den besten Cresta-Rider aller Zeiten, nicht zuletzt, weil er nie in der berüchtigten Shuttlecock-Kurve stürzte. Wie in seinem Leben reizte er auch hier stets das Limit aus.
Viele halten ihn bis heute für den besten Cresta-Rider aller Zeiten, nicht zuletzt, weil er nie in der berüchtigten Shuttlecock-Kurve stürzte.
Zurück in den USA arbeitete er für Dillon, Read & Co., suchte in Hollywood nach Film-Investitionen und lernte durch seinen Freund David Niven seine spätere Frau kennen: Rose Bingham, die geschiedene Gräfin von Warwick. Gemeinsam mit einem Partner investierte er zudem in Aspen, ein verlassenes Minenstädtchen, das er zu einem Wintersportort wie St. Moritz machen wollte. 1938 heirateten Billy und Rose in London, kurz darauf kehrten sie nach New York zurück.
Mit Beginn des Krieges meldete Billy sich, wie viele seiner englischen Freunde, freiwillig bei der Royal Air Force. Als Amerikaner durfte er offiziell nicht eintreten und gab sich als Kanadier aus. Nach der Flugausbildung wurde er nach Tangmere in Südengland versetzt. 1940 flog er in der Luftschlacht um England gegen die deutsche Luftwaffe. Er war ein guter Pilot, doch noch unerfahren im Luftkampf. Nach zwei bestätigten Abschüssen feindlicher Flugzeuge wurde seine eigene Maschine über den Feldern von Kent getroffen. Mit brennendem Motor steuerte er die Maschine in Richtung Tangmere zurück, statt sich mit dem Fallschirm zu retten. Nach der Bauchlandung ohne Fahrwerk griff das Feuer um sich, Billy erlitt schwere Verbrennungen. Er erlag zwei Tage später, am 18. August 1940, im Krankenhaus von Chichester den Folgen des Schocks und der Verletzungen im Alter von nur 28 Jahren.
Seine Witwe Rose stiftete Billys Schlitten dem St. Moritz Tobogganing Club. Dieser hängt bis heute in der Altitude Bar des Kulm Hotels, dem spirituellen Zuhause des Clubs. Dort lebt Billys Wagemut weiter. Und wenn die Mitglieder bei den Cresta-Preisverleihungen in der Sunny Bar ihr Glas heben, gilt der Toast auch Billy Fiske und den anderen Legenden von St. Moritz.
Diese Geschichte erschien zuerst im Buch «Begegnungen/Encounters», publiziert vom Kulm Hotel St. Moritz.
Über den Autor
Stephen Bartley ist Ehrenarchivar des St. Moritz Tobogganing Club und widmet sich der Bewahrung und Pflege der reichen Geschichte des Cresta Run und seiner Gemeinschaft. Mit fundiertem Wissen über die Traditionen und Persönlichkeiten des Clubs sichert er Fotografien, Dokumente und Geschichten aus mehr als einem Jahrhundert.