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Geschichten rund um die alpine Spielwiese von St. Moritz

Alpiner Glamour, architektonischer Wagemut

Alpiner Glamour, architektonischer Wagemut

Von
Cécile Christmann und Fabio Don

Es finden sich Orte im Engadin, die seine typische Architektur stärker repräsentieren als St. Moritz. Die bauliche Vielfalt des Dorfs kann allerdings auch als seine Stärke gelesen werden. Dafür argumentieren Fabio Don und Cécile Christmann, die einen Überblick über architektonische Höhepunkte des Tals geben, in dessen Zentrum einige Gebäude des britischen Architekten Lord Norman Foster stehen.

Unter der kraftvollen Engadiner Sonne war St. Moritz schon immer mehr als nur ein Ferienort in den Bergen. In diesem Dorf treffen sportliche Legenden, Extravaganz und kühnes Design seit je aufeinander. Sein Ruf als Winterparadies geht zurück auf eine berühmte Wette im Jahr 1864, als Hotelier Johannes Badrutt seine englischen Sommergäste einlud, auch im Winter zurückzukehren. Die Einladung beinhaltete das Versprechen, deren Reisekosten zu erstatten, falls ihnen die verschneite Landschaft nicht gefallen sollte. Die Gäste kamen, Badrutt gewann die Wette, und St. Moritz’ Ruf als glamouröses Ziel in den Alpen war geboren.

Von diesem Moment an wurde der Ort nicht nur zum Magneten für Abenteurer und die gesellschaftliche Elite, sondern auch für Architektinnen und Designer, die eine Bühne für ihre Kreativität suchten. Anders als die stillen Engadiner Nachbardörfer mit ihrem einheitlichen Charakter, setzte St. Moritz früh auf stilistischen Eklektizismus und verband Tradition mit Innovation. Prächtige Grandhotels erinnern an das goldene Zeitalter des Skisports, während gewagtere Bauten seine Rolle als architektonisches Versuchslabor markieren. In St. Moritz gehört dieser Stil-Mix ebenso selbstverständlich zur Landschaft wie die schneebedeckten Gipfel: eine einzigartige Verbindung von Erbe und steter Erneuerung, die bis heute fasziniert.

Einige Bauwerke prägen die Stadt und ihre Umgebung ganz besonders und fallen dem wachen, neugierigen Auge sofort auf. So trifft man oberhalb des Kulm Country Clubs und des Kulm Golf auf eine architektonische Vision der 1920er-Jahre, als St. Moritz erstmals die Olympischen Winterspiele ausrichtete. Zu diesem Anlass errichtete Architekt Valentin Koch ein schlichtes, aber für die Zeit hochmodernes Stadiongebäude mit weitem Blick über das Tal. Das Gebäude war ein Symbol für Aufbruch und sportliche Begeisterung, die das Engadin in jener Zeit erfasste.

 

 

Anders als die stillen Engadiner Nachbardörfer mit ihrem einheitlichen Charakter, setzte St. Moritz früh auf stilistischen Eklektizismus und verband Tradition mit Innovation.

Heute ist es vom Künstler Rolf Sachs zum Wohnhaus umgestaltet und hat dabei seinen markanten roten Anstrich behalten. Es ist eines jener Gebäude, die sowohl Stadtgeschichte spiegeln als auch die kreative Handschrift ihrer heutigen Bewohnerinnen und Bewohner zeigen. Wenige Schritte weiter, die Via Maistra hinauf in Richtung Celerina, erhebt sich das Clubhaus des Cresta Run, ein makelloser Bau in einer Mischung aus Moderne und Art déco. Mit seinen klaren Linien und weiten Terrassen bietet es beste Sicht auf die darunterliegende Eisbahn. Entworfen wurde es 1962 vom italienischen Architekten Annibale Fiocchi. Trotz seiner bescheidenen Grösse verdeutlicht es die enge Verbindung von St. Moritz zum Sport, ebenso wie Kochs «Stadion», aber auch zur britischen Kultur. Denn sowohl der Cresta Run als auch der St. Moritz Tobogganing Club (SMTC) wurden von mutigen Engländern gegründet, die hier eine waghalsigere Variante des Schlittensports entwickelten, während sie im Kulm Hotel residierten. Caspar Badrutt war es, der den Bau einer eigenen Bahn für seine Gäste anregte, damit sie den Winter im Tal in voller Intensität erleben konnten.

Auch andere grosse Namen aus Architektur und Design haben Spuren in St. Moritz hinterlassen. Der gefeierte Innenarchitekt Renzo Mongiardino verwandelte 1993 die imposante Lobby des Kulm Hotels in ein fantastisches Interieur aus Holzintarsien und tapezierten Säulen, beides Beispiele seiner unverkennbaren, maximalistischen Handschrift. Minimalistisch und puristisch zeigen sich jüngere Bauten des Dorfs: etwa das erstaunlich späte Projekt eines von Oscar Niemeyer entworfenen Hauses am St. Moritzersee von 2011 oder das Ovaverva-Hallenbad mit Spa, 2014 realisiert vom Schweizer Büro Bearth & Deplazes.

Ein Architekt jedoch verbindet sich auf besondere Weise mit St. Moritz: Lord Norman Foster. Als Ikone seines Fachs entwickelte er eine tiefe Zuneigung zu diesem Ort, geprägt von seiner Leidenschaft fürs Skifahren und die Alpen. Am besten lässt sich St. Moritz wohl vom See aus betrachten, um seine facettenreiche Identität zu begreifen. Innerhalb weniger Jahrzehnte wuchs der Ort von einem Dorf mit kaum 500 Seelen zu einer Stadt mittlerer Grösse, die in den Bereichen Tourismus, Sport, Luxus und Architektur weltweit Bedeutung erlangte. Vor diesem Hintergrund ragen Fosters Arbeiten hervor: etwa die 2004 erbaute Chesa Futura, ein rundes Wohnhaus, verkleidet mit traditionellen Holzschindeln, das sich scheinbar schwebend zwischen traditionellen Engadiner Fassaden und dem schiefen Kirchturm erhebt. In der Fussgängerzone findet sich das Murezzan, ein gemischt genutzter Bau mit exklusiven Boutiquen und Wohnungen, dessen geschwungene Formensprache aus Holz und Glas der Chesa Futura verwandt ist. Zwischen diesen beiden Projekten findet man Fosters Restauration und Erweiterung des Kulm Country Club mit dem dazugehörigen Eis-pavillon, deren fliessende Holzkonstruktion sich harmonisch in die Landschaft einfügt. Von hier schweift der Blick über See, Wald und Berge, im Winter auf Schlittschuhläufer, im Sommer auf Jazzkonzerte oder einen Oldtimer-Paddock. Der Kulm Country Club verkörpert damit das Wesen von St. Moritz: ein lebendiges Zusammenspiel von Alt und Neu, wo historische Artefakte moderne Räume schmücken, die zugleich eine erstklassige Cocktailbar beherbergen.

 

 

In St. Moritz gehört dieser Stil-Mix ebenso selbstverständlich zur Landschaft wie die schneebedeckten Gipfel.

In allen drei Projekten zeigt Foster ein tiefes Verständnis für Landschaft, Kultur und Eigenheiten des Engadins. Obwohl seine Arbeit oft dem sogenannten High-Tech-Stil zugeschrieben wird, bezieht er hier lokale Bautraditionen mit ein: in der Materialwahl ebenso wie in der Orientierung an Ausblicken und Landschaft. So entsteht ein moderner Regionalismus, der die Möglichkeiten des Terrains respektiert und zugleich Neues in Form, Materialität und Technik erprobt. Diese Haltung erinnert an Kenneth Framptons Argument, entwickelt im Buch Modern Architecture: A Critical History, dass moderne Architektur nicht als linearer Fortschritt zu verstehen ist, sondern als Geflecht von Strömungen, beeinflusst durch sozialen und kulturellen Kontext, durch Materialität und Baupraxis. Fosters Werk in St. Moritz scheint genau diesem Denken verpflichtet.

Als Kreuzungspunkt von internationaler Bedeutung kann St. Moritz selbst als «offener» Ort verstanden werden: offen für Ideen, für Forschung, für Experimente. Tatsächlich ist es die Engadiner Stadt, die sich am deutlichsten diesem Geist verschreibt und sich so von ihren Nachbarn unterscheidet. Während andere Orte in der Region ihre kulturellen und landschaftlichen Traditionen bewahren, hebt sich St. Moritz als Versuchslabor für Ideen hervor. Dieses besondere Profil erklärt nicht nur dessen internationale Ausstrahlung, sondern auch, warum visionäre Figuren wie Lord Norman Foster hier bis heute ein fruchtbares Umfeld für Projekte finden, die Erbe, Landschaft und zukunftsgerichtetes Design miteinander verbinden.

Diese Geschichte erschien zuerst im Buch «Begegnungen/Encounters», publiziert vom Kulm Hotel St. Moritz.

Photography: Ralph Feiner; Margit Säde; Inna Alden; Anton Volgger

Über die Autoren


Cécile Christmann ist weltweit tätig als multidisziplinär arbeitende Architektin, Innen-architektin, Autorin und Kuratorin. Ausgebildet an Central Saint Martins und der École de Versailles arbeitete sie unter anderem mit Matthew Donaldson, Bella Freud, Carbondale und Bureau Betak. In Zusammenarbeit mit Assouline kuratierte sie Interieurs privater und kommerzieller Bibliotheken. Mit ihrem eigenen Studio verbindet sie heute die Bereiche Publishing, Hospitality und Luxury.

Fabio Don ist Architekt und arbeitet international an den Schnittstellen von Design, Forschung und Fotografie. Nach seinem Abschluss an der ETH Zürich bei Christian Kerez gründete er 2009 sein eigenes Büro. Er lehrte und forschte an der ETH und veröffentlichte in verschiedenen Fachmagazinen. Seine Arbeiten wurden unter anderem an der Architektur-Biennale Rotterdam sowie an der Milan und Tokyo Design Week gezeigt. 2015 war er Mitherausgeber von Peter Märkli – Drawings und ist Teil des Forum for Architecture Theory.